Noch mal 50 Jahre, bitte

Nein, eine Boyband kann man das wohl nicht mehr nennen, wenn das jüngste Mitglied 58 Jahre alt ist. Aber Herzen erobern können sie nachwievor. Die Rede ist von der legendären Garagerock-Band The Sonics, die gestern Abend einen vollen Dachstock bespielte und trotz ansatzweiser Hüftsteife Tanzfreude aufkommen liessen. Vor 50 (!) Jahren veröffentlichten die Herren ihr erstes Album «Here are the Sonics», wobei der krachende Low-Fi-Rock’n’Roll Zeitgenossen einigermassen ratlos zurückliess – zu primitiv, zu scherbelig und zu kompromisslos spielte das Quintett aus Tacoma, Washington seinen Garagerock. Ein kommerzieller Durchbruch wollte sich nicht einstellen und so lösten sich The Sonics acht Jahre später offizielle auf. In eingefleischten Kreisen und nicht zuletzt während der Punk-Explosion in den späten 70er-Jahren galt der rohe und übersteuerte Klang der Sonics-Songs aber als Massstab und zudem hatten die Mannen mit Songs wie «Strychnin», «Psycho», «The Witch» und «Louie, Louie» wahre Hymen geschaffen, die in jede gut sortierte Plattensammlung gehören.

FullSizeRender Kopie 2

Mehr zum Dachstock-Konzert von The Sonics gibt’s hier:

Seit 2007 sind The Sonics offiziell wieder zusammen unterwegs, wobei von der ursprünglichen Besetzung noch drei Mitglieder übrig sind – was im Vergleich mit anderen Urgesteinen kein schlechter Schnitt darstellt. Optisch vergnüglich war gestern Abend im Dachstock der Fakt, dass die Herren Rob Lind, Larry Parypa und Gerry Rosalie alle relativ gross gewachsen sind, während Freddie Dennis nur etwa halb so gross dafür aber doppelt so breit ist wie seine Band-Gspändli. Aber Heilandzack: welche Stimme da aus diesem Mann erklang! So mancher Soul-Sänger würde sich wohl ein Dennis-Organ wünschen, das in punkto Inbrunst und Heiserkeit locker mit einem James Brown mithalten kann, zumal mit grober Verzerrung und Übersteuerung dem Klang noch mehr Dringlichkeit verliehen wurde.

Kann man im Rock’n’Roll-Zirkus in Würde altern? Jein. Rock’n’Roll wird automatisch mit Jugend, Wildheit und Exaltiertheit assoziiert. Das ist und hat man ab einem bestimmten Alter einfach nicht mehr und Versuche, diese Eigenschaften trotzdem zu zelebrieren, enden oft äusserst peinlich. The Sonics tappen nicht in diese Falle, sondern haben irgendwie den Dreh gefunden, alte Rock’n’Roller auf einer Bühne zu sein, ohne dass man bei deren Anblick vor lauter Fremdschämen gleich in den Boden versinken will. Vielleicht hat es mit der Sympathie zu tun, die man für The Sonics hegt, weil sie immer am Zeitgeist vorbeigesegelt sind: In den 60er-Jahren waren sie zu modern und heute unternehmen sie als Grossväter mit offiziell antiquiertem Sound Europa-Tourneen. Das Fremdschämen bleibt auch deswegen aus, weil die Herren offensichtlich immer noch grosse und ehrlich Freude am Musizieren haben, ihre Gerätschaften einwandfrei zu bedienen wissen, sympathisch bescheiden agieren und schlichtweg fabelhafte Songs auf Lager haben. Vom mir aus dürfen sie also noch mal 50 Jahre.