Das Heft selber in die Hand nehmen

standortstrasse«Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand», so der Untertitel des Buches «Standort Strasse», welches der Verein Surprise soeben herausgegeben hat. Seit 18 Jahren unterstützt der unabhängige Verein Menschen aus sozial und finanziell schwierigen Situationen, wobei der Verkauf des Suprise Strassenmagazins zur Hauptaktivität gehört. Insgesamt 360 Personen verkaufen in der Schweiz besagtes Magazin, welches alle zwei Wochen in einer Auflage von 17’000 Stück erscheint. In «Standort Strasse» finden sich 20 aktuelle und einige ältere Porträts (Aufzeichnung Olivier Joliat, Bilder Matthias Willi), welche einen Einblick gewähren, wer denn diese Surprise-Verkaufenden sind und welche Lebensgeschichten sie zu erzählen haben.

Bei der Lektüre von «Standort Strasse» wird schnell einmal klar: Keiner ist davor gefeit, sich plötzlich am Rande der Gesellschaft wieder zu finden. Da ist zum Beispiel die 72-jährige Rentnerin, welche mit den AHV-Beiträgen alleine schlichtweg nicht über die Runden kommt, der Radrennfahrer aus Eritrea, der vor dem Krieg in seiner Heimat in die Schweiz flüchten musste, der ehemalige Verdingbub mit Leukämie-Diagnose oder der einstige Elite-Junior des HC Davos, der plötzlich für seine schwangere Mutter und seine Schwester zu sorgen hatte. Schicksalsschläge, körperliche oder psychische Versehrtheit, Krankheit, Sucht oder Migrationshintergrund sind Faktoren, welche ein Bestehen in unserer neoliberalen Leistungsgesellschaft erschweren oder gar verunmöglichen und somit in den sozialen Abstieg führen können.

Das Verkaufssystem des «Surprise Strassenmagazins» funktioniert so, dass die Verkaufenden eine bestimmte Anzahl Magazine beim Verteiler zum Einkaufspreis von Fr. 3.30 beziehen und diese dann an bestimmten Standorten für Fr. 6.- verkaufen können, wobei der Differenzbetrag bei ihnen bleibt. Mit diesem niederschwelligen Job-Angebot liefert der Verein Surprise unbürokratische Hilfe zur Selbsthilfe. Aber nicht nur das. Surprise bietet auch Beratung, Unterstützung, Möglichkeit zur Integration und somit auch das wichtigste von allem: menschliche Wärme, Halt und Anerkennung. Jedes der 20 Porträts verdeutlicht dies, betonen doch praktisch alle Porträtierten, welche wichtige soziale Funktion die Surprise-Familie für sie darstelle. Die Lebensgeschichten zeigen auch, dass wenn ein minimales Grundgerüst an Menschlichkeit vorhanden ist, auch wieder ein sozialer Aufstieg erfolgen kann. So ist heute der ehemalige hoch verschuldete Punk ein selbständiger Limousinen-Chauffeur und der einstige Säufer, der ohne einen Grundpegel von 3,5 Promille kollabiert wäre, ist heute Abwart von neun Liegenschaften – in beiden Fällen stand die Arbeit bei Surprise am Anfang der Wiedereingliederung.

«Standort Strasse» porträtiert ungeschönt, aber keinesfalls rührselig und zeigt eindrücklich, wie unterschiedlich die Gründe für einen sozialen Abstieg sein können. Alle Porträtierten sind auf ihre eigene Art Kämpfernaturen, die trotz schwierigen Umständen oder Schicksalsschlägen nicht kapituliert haben, sondern hartnäckig den Widrigkeiten des Lebens trotzen und eben das Heft selber in die Hand nehmen.

«Standort Strasse. Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand.» Verein Surprise (Hg.) Christoph Merian Verlag, 140 Seiten, Fr. 29.-